Sozialpolitik: Soziale Sicherung

Sozialpolitik: Soziale Sicherung
Sozialpolitik: Soziale Sicherung
 
Soziale Sicherung ist Teil der staatlichen Sozialpolitik. Gegenüber der privaten Absicherung von Risiken stützt sich die gesetzliche Sozialversicherung auf eine große Solidargemeinschaft. Aufgabe der sozialen Sicherung ist es, alle Versicherten gegen Risiken zu schützen, die ein regelmäßiges Einkommen über den Lebenszyklus gefährden. Man unterscheidet zwischen systematischen und unsystematischen Risiken. Systematische Risiken sind leichte Krankheiten (z. B. die »jährliche Erkältung«) oder Ruhestand. Sie sind regelmäßig oder vorhersehbar. Ein geringeres Erwerbseinkommen im Alter kann jeder in seine finanzielle Planung einbeziehen. Zu den unsystematischen Risiken zählen Arbeitslosigkeit, Armut oder schwere Erkrankungen, deren Eintritt nicht für jedes Individuum gewiss ist.
 
Die deutsche Sozialgesetzgebung ist in ihren Grundzügen auf das sozialpolitische Reformwerk Otto von Bismarcks (1815 -1898) zurückzuführen und besitzt somit eine lange Tradition. Am Anfang standen die gesetzliche Krankenversicherung (1883), die gesetzliche Unfallversicherung (1884) und die gesetzliche Invaliden- und Altersversicherung (1889). Heute ruht die Sozialversicherung auf fünf Säulen. Grundsatz ist der gesetzliche Zwang zur Versicherung. Nur bestimmte Gruppen wie Selbstständige sind von der Versicherungspflicht befreit. Arbeitnehmer und Arbeitgeber teilen sich zu je 50 % die Beiträge, nur die Unfallversicherung wird im Umlageverfahren durch Arbeitgeberbeiträge finanziert. Mit Ausnahme der Krankenversicherung gilt zudem für alleVersichertendergleicheBeitragssatz.
 
 Moralisches Risiko
 
Ökonomisch wird die staatliche Zwangsversicherung mit Marktversagen begründet. Marktversagen liegt vor, wenn auf dem freien Markt keine Versicherung zustande kommt. Grund für Marktversagen im Versicherungsbereich ist, dass allgemein der Versicherungsnehmer besser als die Versicherung z. B.über seinen Gesundheitszustand informiert ist. Dies führt zu ungünstigen Anreizeffekten wie dem moralischen Risiko. Beispielsweise reduziert der Abschluss einer Krankenversicherung beim Versicherungsnehmer den Anreiz zur Sorgfalt. Dieses Verhalten kann die Versicherung nur unvollständig bewerten, weil sie schlecht über den Versicherungsnehmer informiert ist. Wenn sie dessen moralisches Risiko vor Vertragsabschluss berücksichtigt, wird sie höhere Versicherungsprämien verlangen, um sich finanziell abzusichern. Im Extremfall sind die Prämienforderungen so hoch, dass niemand diese Versicherung kaufen will. Solches Marktversagen vermutet der Gesetzgeber bei der Sozialversicherung. Er löst es durch allgemeinen Kontrahierungszwang: Jeder muss sich versichern, die Versicherung kann niemanden ausschließen. Trotzdem besteht moralisches Risiko weiterhin. Der gesetzlich Krankenversicherte hat einen Anreiz, die besten Gesundheitsleistungen in hoher Menge nachzufragen. Der gesetzlich versicherte Arbeitslose hat einen verminderten Anreiz zur Arbeitsaufnahme. Diese Probleme werden reduziert, wenn man die Interessen beider Vertragspartner angleicht. Instrumente dazu sind die Selbstbeteiligung der Patienten in der Krankenversicherung oder eine nur zeitlich begrenzte Unterstützung in der Arbeitslosenversicherung.
 
 
Der zweite wichtige Anreizeffekt, der zu Marktversagen führen kann, ist die adverse Selektion. Wie das moralische Risiko beruht adverse Selektion auf einer asymmetrischen Verteilung von Information. Während bei moralischem Risiko die Verteilung der Information nach Vertragsabschluss das Verhalten beeinflusst, ist bei adverser Selektion die Verteilung vor Vertragsabschluss relevant. Klassisches Beispiel ist der Markt für Gebrauchtwagen: Die Anbieter sind besser über die Qualität ihrer Wagen informiert als potenzielle Kunden. Für gute Autos sollte ein höherer Preis verlangt werden als für qualitativ schlechte. Da jedoch die Nachfrager die Qualität der Wagen immer nur unvollständig vor Vertragsabschluss bewerten können, haben die Anbieter schlechter Ware keinen Grund, niedrigere Preise zu fordern. Sie verlangen den Preis der guten Gebrauchtwagen. Wenn aber der Kunde nur für die von ihm erwartete Durchschnittsqualität bezahlen will, liegen für ihn alle Preisforderungen zu hoch. Ein Geschäft kommt nicht zustande. Dieses Marktversagen vermutet der Gesetzgeber z. B.auch bei der Pflegeversicherung. Wer das Risiko, selbst Pflegefall zu werden, gering einschätzt, will nicht den für den Durchschnitt aller Versicherten berechneten Beitragssatz bezahlen. Da alle Versicherungen aber danach ihre Prämienforderungen berechnen, findet er im Extremfall keine Versicherung. Eine Möglichkeit, dieses Problem der adversen Selektion zu verhindern, bietet eine staatliche Zwangsversicherung. Dass dennoch private Kranken- oder Rentenversicherungen bestehen, für Selbstständige oder Bezieher hoher Einkommen sogar die einzige Versicherung darstellen, zeigt, dass die genannten Anreizprobleme nicht immer gelten. Vielmehr verpflichtet der Staat manche zur Versicherung, weil er bei ihnen eine individuell zu geringe Nachfrage nach derartigen Versicherungsleistungen vermutet. Dieses patriarchalische Verhalten des Staates steht im Konflikt mit dem Ideal der Konsumentensouveränität.

Universal-Lexikon. 2012.

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